Du bist, was du isst. Oder auch nicht isst.

„Der Italiener ist nämlich Nudelesser“, belehrte TV-Ekel Alfred Tetzlaff seine Familie in einer Episode der unvergessenen Serie „Ein Herz und eine Seele“. „Der“ Italiener ist Nudelesser. „Der“ Franzose ist – zumindest in den Augen des Erbfeindes England – ein „froggy“, also ein Froschfresser. „Der“ Engländer hingegen ist – zumindest in den Augen der Franzosen – ein „limey“. Einer, der ständig an Zitrusfrüchten lutscht. Weil er Dienst an Deck eines Schiffs tut, das zur mächtigsten Flotte seiner Zeit gehört, und weil der Skorbut eine noch realere Gefahr ist als der Klabautermann. Und wir? Wir Deutsche? Sind die „krauts“, vielleicht auch die „Kartoffelfresser“.

Aber sind wir das wirklich? Die alten nationalen Stereotypen mit Bezug auf vermeintliche Nationalgerichte taugen längst nicht mehr zu dem, wozu sie einst gedacht waren: Beleidigungen, die man erst einmal etymologisch herleiten muss.

 

Vorratspacks sind heute nichts als ein Echo aus Zeiten der Lebensmittelknappheit

Unsere Speisepläne sind stetig vielseitiger und raffinierter geworden. Das vermeintliche Nationalgericht „Eisbein mit Sauerkraut“? Kulinarisches Auslaufmodell, mit dem sich heute wohl allenfalls noch eine Generation identifizieren wird, die lebensbedrohliche Entbehrungen noch aus eigenem Erleben kennt. Die gelernt hat, dass „deftig“ gleichbedeutend mit „gut“ ist.

„Wir essen alles“ – einendes Bekenntnis der Generationen, deren Angehörige zwei Weltkriege erlebt haben. In ihren Augen galt und gilt es nachgerade als Kardinaltugend, mit Blick auf Lebensmittel nicht wählerisch zu sein.

Welche Spuren haben zwei Kriege eigentlich im kollektiven Bewusstsein hinterlassen? Sind die Vorratspacks und Riesenpackungen, mit denen die Lebensmittelindustrie uns für ihre Produkte zu begeistern versucht, ein fernes Echo „aus der schlechten Zeit“, in der man von Überfluss nur träumen konnte?

„Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“ – für unsere Altvorderen ist das kein von einem Verband erfundener Slogan gewesen, sondern ebenso Teil des Küchen-Katechismus wie der leergegessene Teller: Kein Sonntag ohne Sonntagsbraten, und ohne komplett vertilgte Portionen keine Aussicht auf Sonnenschein am nächsten Tag. Auch das, zum Glück, ein Auslaufmodell – die Häufigkeit, mit der Fleisch Teil des Speiseplans ist, wird nicht mehr flächendeckend als Indikator für Wohlstand empfunden.

  • Nichts wird die Chance für ein Überleben auf der Erde so steigern wie der Schritt zu einer vegetarischen Ernährung.«

    Albert Einstein

 

Eine wachsende Zahl von Zeitgenossen definiert sich darüber, was sie eben nicht isst

Man muss nicht erst Jonathan Safran Foers kluges Buch „Tiere essen“ gelesen haben, um berechtigte Zweifel am CMA-Claim zu hegen. Taugt der Vorschlag eines wöchentlichen „Veggie Day“ heute noch genauso zum Aufreger wie 2013? Wie verträgt sich eigentlich die kürzliche Welle der Empörung angesichts der Forderung eines Mindestpreises für Fleisch mit Umfrageergebnissen, die belegen wollen, dass eine Mehrheit von uns dazu bereit ist, höhere Preise für Schinken, Wurst und Nackensteak zu bezahlen?

Du bist, was du isst – oder eben auch nicht. In diesen Tagen scheint sich eine wachsende Zahl von Zeitgenossen vor allem darüber zu definieren, was sie eben nicht isst.

Jenseits aller Diäten, welche die großen Weltreligionen ihren Anhängern dauerhaft („grundsätzlich nur, was halal oder koscher ist“) oder auch nur zeitweise („Freitags nur Fisch“) vorschreiben, bekennen sich immer mehr Menschen zu flexitarischer, vegetarischer oder gleich veganer Lebensweise (es sei dahingestellt, inwieweit es dabei beim Lippenbekenntnis bleibt – zum Beispiel, weil, wie ein großes deutsches Wochenmagazin süffisant angemerkt hat, leider auch der Kleber für den „Veggie“-Sticker auf der Verpackung nicht frei von Gelatine ist).

Debatten werden in diesen Tagen über den korrekten Umgang mit Lebensmitteln im Allgemeinen und tierische Erzeugnisse im Besonderen mit einer Hitzigkeit geführt, die der von Disputen mit religiösem Bezug in nichts nachsteht: Die Frage danach, warum bitteschön die Form gewisser veganer Lebensmittel den Originalen nachempfunden ist, bietet erfahrungsgemäß ein erstaunlich großes Diskussionspotenzial – darf die Form eines Tofu-Bratlings einer Grillwurst nachempfunden sein?

Kann, darf, soll, muss eine fleischlose Frikadelle Optik und Konsistenz des Vorbilds aus gemischtem Hack haben? (Tipp: Beziehen Sie ruhig auch Tierhalter in die Diskussion ein und stellen Sie die These in den Raum, dass nicht nur Hunde, sondern auch Wölfe vegan leben können – die lebhafte Unterhaltung ist garantiert, auch wenn’s inzwischen nach 0.00 Uhr ist.)

  • Echte Männer essen keinen Honig – sie kauen Bienen.«

    Chuck Norris

Fakt ist: Es gibt immerhin ein paar biologische Prädispositionen

Wir halten fest: Der Italiener isst Nudeln (oder lässt es bleiben, weil ihm Sushi besser schmeckt). Wer prägende Mangelerfahrungen gemacht hat, wird Zeit seines Lebens Wert auf eine gut gefüllte Kühltruhe und Vorratskammer legen (oder auch nicht, weil er seine Ängste bezwingen kann). Wer die Wahl hat und wem das Wohl der Welt nicht schnurz ist, wird kein Tier essen (oder seinen Konsum tierischer Erzeugnisse zumindest bewusst gestalten) und vielleicht einen Bogen um die Produkte bestimmter Hersteller machen.

Bleibt zu guter Letzt die Frage nach dem, was jenseits aller Optionen und individuellen Vorlieben ist: Wie sieht er aus, der kleinste gemeinsame kulinarische Nenner – gibt es überhaupt ein Lebensmittel oder eine Ernährungsform, die unserer Natur besser entspricht als die zahlreichen Alternativen, unter denen wir heute täglich auswählen können? Low Carb and High Fat, Paläo oder doch mediterran?

Es gibt immerhin ein paar biologische Prädispositionen. Es gibt gewisse Erfahrungen, die niemand von uns persönlich gemacht hat, sondern die unsere Art gemacht hat. In uns allen scheint noch die Erinnerung an die Wiege der Menschheit lebendig zu sein. Die Gegenden in Afrika, in denen man Überreste der Vorfahren der Gattung Homo gefunden hat, sind karg. Salz ist hier ebenso Mangelware wie Zucker und auch Fett – wann immer unsere Vorfahren ihrer habhaft werden konnten, hatte das Prinzip „wenn schon, denn schon – je mehr, desto besser“ sicher seinen Sinn. Heute, da für unsereins Lebensmittel aller Art nahezu jederzeit und überall verfügbar sind, scheinen einstmals lebenserhaltende Impulse zunehmend zum Problem zu werden.

 

Eine Grundsatzfrage unserer Zeit: Wollen wir unserem genetischen Erbe treu bleiben?

Und auch da beißt die Maus keinen Faden ab: Der Mensch ist eben nicht nur Sammler, sondern auch Jäger – zum Ernten von Radieschen jedenfalls ist nicht unbedingt die Fähigkeit des dreidimensionalen Sehens erforderlich, die unsereins dank eines Augenpaars hat, das nicht seitlich am Kopf Platz gefunden hat, sondern, wie bei allen Raubtieren, frontal. Wir alle sind, von Haus aus jedenfalls, Fleischfresser.

Die Frage nach „rare“ oder „well done“ würden Anthropologen übrigens eher mit „gut durch“ beantworten: Ab dem Moment, in dem der Mensch entdeckt hat, wie er Fleisch durchs Garen besser verwertbar, weil leichter verdaulich machen kann, hat sich seine fliehende Stirn Stück für Stück nach vorn geschoben – je weniger Blut Richtung Magen wandern musste, weil der mit schwer Verdaulichem beschäftigt war, desto mehr konnte ins Oberstübchen gelangen.

Currywurst oder Veggie-Knacker? Möchten wir unserem genetischen Erbe treu bleiben?

Vor 20 Jahren hat sich diese Frage kaum jemand gestellt.

Ob und inwieweit jeder Einzelne von uns seinem genetischen Erbe treu blieben möchte und welche Rolle eine von ihm bewusst gewählte Ernährungsform (Currywurst oder Kobe-Rind? Veganer oder doch lieber Meister am Wurstgrill? Fairtrade oder Discount?) für sein Selbstverständnis spielt, ist eine Frage, die für eine wachsende Anzahl von Menschen heute wichtiger zu sein scheint als sie es vor zehn oder 20 Jahren war. Es lohnt, sich mit ihr bewusst auseinanderzusetzen – mit Blick auf die eigenen Lebensgewohnheiten sicher ebenso wie mit Blick auf eine Weltbevölkerung von sechs Milliarden Menschen.