Was ist authentisch? Vom Unterschied zwischen doof und echt doof

Was ist authentisch? Vom Unterschied zwischen doof und echt doof

Was ist Keith Richards im Anzug? Richtig: Keith Richards!

… and now for something not so completely different…
Früher brauchte man Talent, wenn man es in Funk und Fernsehen zu Bekanntheit bringen wollte. Heute reicht eine einfache Inselbegabung: Grinsrübe in die Kamera halten, dummes Zeug reden und einfach nur „da“ sein. Denn heute ist vor allem eines gefordert: Authentizität. Einfach nur dumm stellen gilt dabei nicht. Man muss glaubhaft den Eindruck vermitteln können, dass man echt doof ist – je, echter, desto besser, desto viraler. Tschüss, Verona Pooth, herzlich willkommen, Schäfer Heinrich!

“Authentisch sein”. Was heißt das eigentlich? Ist “authentisch” das Gleiche wie “individuell”? Nein, Authentizität ist ein Teil dessen, was uns als Individuum ausmacht.

Volksmusiksänger Heino etwa begegnet uns inzwischen mit Totenkopfring am Finger und ist sich auch für Gastauftritte in Wacken nicht zu schade. Sollen wir glauben, dass der auf seine alten Tage zu sich selbst gefunden hat? Weil ihm klargeworden ist, dass in seiner Brust ein Rockerherz schlägt? Kann man glauben, muss man nicht.

“Außen wie innen”, fordert meine Freundin Ulrike Jaitner immer, die in ihrem wunderbaren Design Business “Im Element” Interior Design, Dekoration und Einrichtungskonzepte mit Achtsamkeitstraining, Meditation und energetischem Feng Shui verbindet. Innenarchitektur und Außenarchitektur müssen stimmig und im Einklang miteinander sein, sonst drohen schnell Risse in der Fassade und es fängt an zu bröckeln. Ist es eine leichte Aufgabe, diesen Einklang herzustellen? Nein, heute wahrscheinlich weniger denn je.

Unsere Urgroßmütter und -väter kamen als Individuen auf die Welt und wurden dann zu Mitgliedern der Gesellschaft sozialisiert, für die es klar umrissene Rollen gab – es ist sicher kein Zufall, dass die Gesichter, die uns aus alten Fotos anblicken, uns oft sehr ähnlich erscheinen. Ähnliche Gesichter, ähnliche Rollen, ähnliche Lebenswege – das verspricht wenig Freiheiten, dafür Sicherheit in Form einer homogenen Gesellschaft. In der man gut aufgehoben ist, solange man nicht aus der Reihe tanzt.

 

“Ihr seid alle verschieden!” “Ich nicht.”

Und heute? Verläuft die Sozialisation – hierzulande jedenfalls – entgegengesetzt. Wie alle anderen sein, in der Masse aufgehen – wer will das schon? Darf man das überhaupt wollen – und wenn ja, in welchem Maße? “Ihr seid alle verschieden”, ruft Brian, der Heiland wider Willen, in der Monty Python-Komödie “Das Leben des Brian” einer vielköpfigen Meute zu. “Ich nicht”, ruft einer keck zurück.

Individualisten sind gefragt – unverwechselbare, unverstellte Typen, die dabei aber bitte auch immer Teamplayer sind. Was nichts anderes heißt als: empathiefähige Menschen, die nicht nur die eigene Rolle kennen und perfekt ausfüllen, sondern sich auch ins Gegenüber einfühlen können. Das klingt nicht nur nach großer Schauspielkunst, das ist es auch.

Weil es eben nichts damit zu tun hat, dass man dem anderen etwas vormacht. Sondern damit, dass man wirklich in einer Rolle aufgeht. Ein schönes Bild: Da blüht etwas auf in einer Rolle – ein Teil des eigenen Wesens, den man nicht vorspielen kann oder muss, weil er immer schon da ist. Professionelle Schauspieler wissen, dass das eine ungeheure Erfahrung sein kann, im Guten wie im Schlechten. “Mein Umfeld hat gesagt, dass ich während der Dreharbeiten sehr oft über Hitler gesprochen hätte – und zwar nicht immer mit der angemessenen, politisch korrekten Distanz”, hat Bruno Ganz über die Zeit gesagt, in der er für den Spielfilm “Der Untergang” die Rolle Adolf Hitlers übernommen hat – so überzeugend, dass das Publikum spürte: Da wird ein Teil der Persönlichkeit des Menschen Bruno Ganz sichtbar, den er nicht spielen kann, sondern den er nur zum Leben erwecken und zulassen kann. Eine Gratwanderung, denn man kann nicht nur aufgehen in einer Rolle, man kann sich auch darin verlieren und über den Abschluss der Dreharbeiten hinaus “in character” bleiben – die Rolle ergreift so vom Geist Besitz, dass der Betreffende sich nicht mehr ohne fremde Hilfe von ihr lösen kann.

 

Auf der Bühne wie an der Hotelbar. Und umgekehrt.

Das macht übrigens das Reality TV so knifflig: Die meisten Menschen können ziemlich gut unterscheiden zwischen “echt” und “aufgesetzt”. War der Eklat  echt oder nur inszeniert? Brennende Leidenschaft oder kaltschnäuziges Kalkül? Wer erst dann echt wirkt, wenn er aus der Rolle fällt, hat sie nicht perfekt ausgefüllt.

Genau deshalb lieben wir die Lindenbergs, die Kinskis, die Helge Schneiders: Wir nehmen denen ab, dass sie so sind, wie sie sich geben. Spielen die keine Rollen? Doch. Rollen spielen wir alle täglich, sobald wir anderen Menschen begegnen. Gegenüber dem Busfahrer verhalten wir uns anders als gegenüber der Schwiegermutter. Es gibt aber eine Schnittmenge, und genau da stoßen wir auf Authentizität. Auf einen Satz von Merkmalen, die uns nicht wie Augenfarbe oder Fingerabdruck in die Wiege gelegt worden sind. Die nicht nur Antwort geben auf die Frage „Wer bin ich?“, sondern „Wer will ich sein?“ Das herauszufinden, zu beschließen und zu leben erfordert Mut: Was erlaube ich mir, was nicht?

 

Berechenbar, verlässlich, ein Fels in der Brandung – leider sind auch echte Arschlöcher so.

Solchen Fragen auszuweichen ist keine Lösung. Schließlich erleben wir gerade, wohin es führen kann, wenn Menschen in Führungspositionen es zulassen, dass Kalkül, Konsens und Appeasement ihnen zur (zweiten?) Natur werden. Und wenn die, die ihnen folgen sollen, sich dessen bewusst werden.

Man darf Donald Trump für einen geltungssüchtigen Egomanen halten, aber in dem was er sagt und tut, wirkt er zumindest wie ein echter geltungssüchtiger Egomane– klare Kante eben! Schwer vorstellbar, dass der an der Hotelbar plötzlich ganz anders rüberkommt als auf der Rednertribüne. Der bleibt sich treu, und das kommt offenbar bei vielen Menschen immer wieder gut an.

Die Frage ist gar nicht, ob die Art von Politik, die wir in den letzten Legislaturperioden erlebt haben, die schlechteste Option war. Der Knackpunkt ist eher die Frage danach, wie Ergebnisse überhaupt zustande kommen: Ist jemand mit ganzem Herzen dabei? Haben wir den Eindruck, dass jemand für eine Sache wirklich brennt? Riskiert jemand, uns einen Teil dessen zu zeigen, was er sein und wofür er stehen möchte – auch auf die Gefahr hin, dass so viel Authentizität nicht bei jedem gut ankommt? Ich glaube, die meisten von uns wünschen sich, dass man mit uns aufrichtig umgeht – öfter mal Tacheles als immer nur wohlüberlegte, fein ziselierte Verdruckstheiten!

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No risk, no fun, no trust.

Es reicht nicht, ein Bild von sich zu entwerfen, das sich die Öffentlichkeit tunlichst von einem machen soll. Man muss ein klares Verständnis von der Rolle haben, die man einnimmt – und dann muss man diese Rolle mit Geist und Herz ausfüllen. Harte Arbeit, aber sie lohnt sich. Wer sich traut, in seiner Rolle voll und ganz aufzugehen, erzielt Wirkung. Authentizität schafft Verlässlichkeit, Echtheit schafft echtes Vertrauen.

Die besten Bewerbungsgespräche sind doch immer die, in denen wir an einen Punkt kommen, an dem wir uns trauen, frei von der Leber weg zu erzählen und wirklich etwas von unserer Persönlichkeit offenzulegen. Das ist der Punkt, ab dem wir authentisch wirken; übrigens auch dann, wenn wir uns vielleicht vorsichtshalber doch etwas mehr „verkleidet“ haben, als wir das im Alltag für gewöhnlich tun würden. Kleider machen Leute? Kann sein. Allerdings wird auch umgekehrt ein Schuh draus – der Träger macht den Anzug.

In dem Moment, in dem ein Gegenüber und Sie sich auf die authentische Ebene begeben, weil Sie sich, zum Beispiel, als glühender „Rolling Stones“-Fan outen, wird man die Sicht auf Sie eh neu kalibrieren. Weil klar wird, dass Sie sich nicht verkleiden, sondern eine so dermaßen coole Sau sind, dass es Ihnen völlig wurscht ist, ob Sie heute Krawatte tragen oder nicht. Konform oder doch eher unkonventionell? Die Antwort lautet: innen wie außen!

Authentisch durchs Leben gehen heißt ja nicht, plötzlich mit Schmackes gegen Konventionen zu verstoßen – wenn das so wäre, wäre alles ja ganz einfach. Konventionen kennen, sich selbst prüfen und einen bewussten Entschluss zu treffen, welchen man entsprechen möchte und welchen nicht – das ist das Rezept. Wenn Sie nicht wissen, was Sie sich erlauben wollen und was nicht, wer denn dann?

Wenn wir erst soviel „Firmentreue zum eigenen Ich“ entwickelt haben, können plötzlich auch äußere Rollenattribute ins Bild passen, die bis dahin vielleicht aufgesetzt gewirkt hätten. In dem Moment, in dem Heino an der Hotelbar mit einem seiner Fans in einen lautstarken und (hurra!) vielleicht sogar handgreiflichen Streit darüber gerät, welches Motörhead-Album das beste ist … dann passen innen und außen vielleicht tatsächlich, dann wird vielleicht aus Accessoires die glaubwürdige persönliche Note, die eine verlässliche Aussage über die innere Haltung trifft. Bis dahin aber gilt: Totenkopf am Ringfinger macht aus einem Heino noch lange keinen zweiten Keith Richards.