Digitale Identität – oder: Das heikle Experiment mit der Authentizität

Digitale Identität – oder: Das heikle Experiment mit der Authentizität

Technische Innovationen konnten mich schon immer begeistern. Ich mag es, mich in neue Dinge „reinzufuchsen“ – und nach und nach das volle Potential der jeweiligen Technik zu entdecken. Jetzt gerade experimentiere ich nach längerer Zeit mal wieder mit Twitter bzw. allen möglichen Tools, mit denen ich die schnelllebige Kommunikation über das Social Network besser in meinen Alltag integrieren kann.

Ja, ich weiß – ich bin damit etwas später dran als andere und wäre nur einer von Zigtausenden, wenn ich jetzt meine persönlichen Tipps für einen angemessenen Umgang mit Social Media herausposaunen wollte. Darum geht es mir mit diesem Text auch überhaupt nicht – zumindest nicht in allererster Linie. Denn die Frage, die mich in Zusammenhang mit meiner Aktivität auf Twitter, Facebook, LinkedIn & Co. seit längerem umtreibt, ist die nach unserer digitalen Identität. Oder in diesem Fall vielmehr: meiner eigenen digitalen Identität – und was diese eigentlich ausmacht.

Denn seien wir mal ganz ehrlich: Online – egal ob auf dieser Seite, bei Facebook oder Twitter – spiele ich immer eine bestimmte Rolle und inszeniere in gewisser Weise meine Persönlichkeit. Würde ich etwas anderes behaupten, wäre ich in meinem Job in der Identitätsentwicklung wohl fehl am Platz. Und täte ich etwas anderes, nämlich mein Leben, die Gesamtheit meiner Wesensmerkmale, lückenlos ins Netz zu übertragen, wäre ich zudem auch völlig lebensmüde, würde zum Inbegriff des gläsernen Users – und viele Arbeitsplätze bei NSA, BND und GCHQ gefährden.

Da ich letzteres natürlich am allerwenigsten möchte – ich gönne den Geheimdienst-Mitarbeitern ihren vermutlich zukunftssicheren Job von ganzem Herzen –, achte ich schon bewusst darauf, welche Ortsangaben, Konsumnachweise und Kommunikationsspuren ich im Netz hinterlasse. Und alle drei Punkte sind Bestandteile meiner digitalen Identität – zusätzlich zu der Art und Weise, wie ich mich eben selbst inszeniere.

„Moment“, dürften jetzt viele (und vielleicht sogar einige meiner aktuellen oder ehemaligen Klienten) einwerfen, „wo bleibt denn da die Authentizität?“ – Meine Antwort: Sie bleibt erst einmal nicht auf der Strecke – wenn man sein Selbstbild reflektiert und seine Kern-Identität kennt. Dann läuft man auch nicht Gefahr, eine aufgesetzte Schein-Identität zu konstruieren. Doch dazu später mehr.

Das Thema Authentizität ist im Zusammenhang mit digitaler Identität ein ganz besonders wichtiges und spannendes. Denn was heißt schon authentisch, wenn uns das Netz die Möglichkeit gibt, immer wieder ein neues Drehbuch für uns selbst zu schreiben? Wir können verschiedene Identitätsentwürfe durchspielen, testen und abgleichen. Kann es unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch Authentizität geben?

Social Media und der Authentizitätstrend

„Sei, wie du bist!”, „Sei glaubwürdig!“, „Sei authentisch!” – unter den Autoren von Ratgeber-Artikeln in Bezug auf Social Media gibt es anscheinend einen wahren Authentizitätstrend. Ich habe sogar von Uni-Dozenten gehört, die in Seminaren ausdrücklich vor einer Inszenierung des Selbst warnen und Authentizität als einzig wahren Schlüssel zum Erfolg „verkaufen“ sollen. Geht es um unsere digitale Identität, ist Authentizität ein übermäßig, fast schon leichtsinnig genutzter Begriff – und ein vermutlich ähnlich häufig missverstandener.

  • Erstaunlich, dass der Mensch nur hinter seiner Maske ganz er selbst ist.«

    Edgar Allan Poe

Im Duden wird „authentisch“ definiert als „echt; den Tatsachen entsprechend und daher glaubwürdig“ – etwas, was schon vor der Digitalisierung eine ganz schön schwierige Sache sein konnte. Denn – so wurde es ziemlich treffend in der letztjährigen April-Ausgabe des Harvard Business Manager formuliert – eine „zu schlichte Auslegung des Prinzips Authentizität kann schnell zum Bu­me­rang für die per­sön­li­che Ent­wick­lung wer­den“. Wer wäre schon ein guter Chef und könnte seine Mitarbeiter motivieren, würde er ihnen gegenüber alles kommunizieren, was er denkt – zum Beispiel, dass ihn gelegentlich auch Zweifel an der eigenen Unternehmensstrategie plagen.

Authentizität im Netz: Das Henne-Ei-Problem

Außerdem könnten wir bei so vielen Menschen darüber klagen, dass sie ja im wahren Leben überhaupt nicht so sind, wie wir sie im Netz kennengelernt haben. Und genau diese Situation erleben wir immer öfter. Entsprechen diese Personen nicht unserem Eindruck aus der digitalen Welt, sind sie dann nicht authentisch? Man sieht schon: Authentizität erinnert hier stark an das berühmte Problem mit der Henne und dem Ei.

Der Gedanke, man müsse im Netz die eigene Realität abbilden – oder eben andersherum -, um authentisch zu sein, kann ein fataler werden. Denn unsere digitale Identität ist keine Abbildung der realen. Vielmehr beeinflusst sich beides die ganze Zeit gegenseitig. Identität konstruiert sich über Beziehungen – auch über jene in den sozialen Netzwerken, die immer mehr unsere Interaktion und Kommunikation bestimmen. Gefährlich wird es, wenn wir uns von den neuen Feedbackprozessen mit Likes und Kommentarspalten in die Identitätskrise treiben lassen – und am Ende selbst gar nicht mehr wissen, wer wir eigentlich sind. Während mir früher sieben Leute auf dem Schulhof meinen schrägen Humor vorwarfen, tun dies heute vielleicht Tausende bei Facebook & Co.

Wir müssen lernen, mit unserer digitalen Identität umzugehen. Und zwar genauso, wie wir auch analoge Verhaltensweisen verinnerlichen mussten – ob nun auf dem Schulhof oder im Beruf. Wir passen unser Handeln immer wieder anderen Standards an – seien es ethische, religiöse, berufliche, private – und vor dieser Herausforderung stehen wir auch im Digitalen.

Entscheidend ist es, seine Kern-Identität zu finden aus der heraus eine ganz neue Qualität des Lebens entstehen kann und durch die sehr viel stimmige Veränderung möglich ist. Dann kann ich jedes digitale Experiment bedenkenlos angehen, bei dem ich mich fragen sollte: „Wer will ich sein?“. Und wer die Antwort auf diese Frage gefunden hat, ist im Übrigen auch noch authentisch.